Rezension  

[erstellt im April 2021 - English version (shorter) here!]                                                                                                        
  
Dark Tourism   Albrecht SteineckeDark Tourism – Reisen zu Orten des Leids, des Schreckens und des Todes
von Albrecht Steinecke (München/Tübingen: UVK Verlag, in der Reihe „Tourism NOW“), 222 Seiten, Großformat
  
  
Dies ist die nach eigener Aussage des Autors (und auch meines Wissens) erste deutschsprachige Monografie zum Thema Dark Tourism (in Folge abgekürtzt DT). Sie verwendet dennoch den englischen Begriff, weil, wie im Vorwort gut begründet, sich dieser als Terminus technicus nun einmal durchgesetzt hat, sowohl gegenüber Alternativ-Vorschlägen (wie Thanatourismus oder black tourism) als auch etwaigen Übersetzungsversuchen.
  
Die Titelseite zeigt neben Buchtitel und Verlagslogo ein Foto aus einem der top Dark-Tourism-Orte: Pripyat bei Tschernobyl, nämlich das berühmte Riesenrad. Eine vielleicht etwas klischeehafte Wahl, aber es ist ja ein vielbeachteter Ort, also geht das in Ordnung.
  
Inhaltlich und strukturell, in Aufbau, Stil und Tiefe ist das Buch als eine gewisse Mischform zu erachten. Einerseits an der akademischen Forschung zu Dark Tourism orientiert, aber in lesbarer, weitgehend allgemeinverständlicher Form. Wie explizit erklärt wird, stellt das Werk keinen eigenständigen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte dar, sondern will vielmehr einen Überblick bieten, sowohl über die Natur und verschiedene Spielarten des Dark Tourism als auch über den Forschungsstand.
  
Als Leser werden hier insbesondere Mitglieder innerhalb der Tourismus-Branche angesprochen, wo das Thema bisher ein Schattendasein geführt hat, meist unerwähnt bleibt und vermieden wird. Da es aber als Wachstums-Bereich verstanden wird, möchte der Autor, auch wenn er es nicht selbst so deutlich sagt, Kollegen in der Tourismus-“Industrie“ Hilfestellungen und Orientierung an die Hand geben, die einen angemessenen Umgang mit der Thematik erleichtern sollen. Auch für allgemein am Thema interessierte Leser, und natürlich beginnende Studenten, ist das Buch durchaus geeignet; aber an Reisende ist es nicht speziell gerichtet, schon gar nicht an Menschen, die sich bereits als Dark Tourists verstehen (was eh nur für eine sehr geringe Zahl zutrifft). Dennoch kann es auch diesen zusätzliche Anregungen geben.
  
Besonders würde ich mir wünschen, dass das Buch unter Medienvertretern und Journalisten Beachtung erfährt. Warum, wird im Folgenden mehrfach deutlich werden – in erster Linie: weil mit diversen Missverständnissen und falschen Werturteilen aufgeräumt wird.
  
Der Inhalt ist wie folgt aufgegliedert: Einem kurzen Vorwort und Inhaltsverzeichnis folgt eine (im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführte!) zweiseitige Übersichttafel zu sechs Motiven von Dark Tourists, dann ein Einführungskapitel zum Thema an sich. Daran schließen sich Kapitel zu bestimmten Unterkategorien von DT an, angefangen mit Holocaust und Völkermord. Dazu gesellt sich ein „Experteninterview“, bevor es mit dem Thema Schlachtfelder, militärische Einrichtungen und Militärmuseen weitergeht. Es folgt ein Mischkapitel zu Orten von Terroranschlägen, Naturkatastrophen und Nuklearunfällen. Danach erfolgt ein „Exkurs“ zu Slumtourismus, gefolgt von einem Kapitel zu Grabmälern und Friedhöfen. Ehemaligen Gefängnissen widmet sich das nächste Kapitel und das letzte thematische Kapitel diskutiert „kommerzielle ‚dunkle‘ Besucherangebote“ (Dungeons, Geisterbahnen, etc.). Das Schlusskapitel ist dann erwartungsgemäß ein Kapitel namens „Fazit und Ausblick“.
  
Schon an dieser Auflistung kann man sehen, dass die Schwerpunkte etwas unausgewogen sind – insofern als problematische Randbereiche, die teilweise von vielen (so auch mir) gar nicht als wirklich zu DT zugehörig verstanden werden, insbesondere Slumtourismus und so Dinge wie Geisterjagden und Dungeons, das gleiche Gewicht und dieselbe Tiefe der Auseinandersetzung zuteil wird wie den wirklichen Kernbereichen wie Holocaust-Tourismus oder Reisen zu Orten von Natur- oder Industrie-Katastrophen. Das ist aus meiner Sicht etwas schade, weil es die weitverbreiteten Fehleinschätzungen darüber, was DT im Wesentlichen ausmacht, weiter zementiert, aber da diese Themen sowohl in den Medien als auch im akademischen Bereich in der Tat viel diskutiert worden sind, ist deren Behandlung in so einem Übersichtsband natürlich auch völlig legitim.
  
  
Schauen wir uns die einzelnen Teile des Buches einmal näher an:
   
[NB! die folgende Detailbesprechung muss notgedrungen so manches vom Inhalt preisgeben. Wer dies nicht so genau erfahren möchte, kann hiermit direkt zum Fazit springen!]
   
  
Schon in den ersten Zeilen des Vorworts wird erkennbar, dass der Autor sich sehr an den Schriften von Philip Stone orientiert bzw. sich davon offenbar stark hat beeinflussen lassen. Die Verdrängung des Themas Tod aus der modernen Gesellschaft (im Original als „sequestered“ bezeichnet) wird dabei in den Vordergrund gestellt, wiewohl Tod dennoch in den Medien allgegenwärtig ist und offenkundig auch fasziniert. Dass so manches im DT gar nicht so direkt mit Tod zu tun hat, gerät dabei leider in den Hintergrund (etwa Orte von Vulkanausbrüchen oder Erdbeben, wo zwar so manche Zerstörung erfolgt sein mag, aber nicht zwangsläufig auch Todesopfer zu beklagen gewesen sein müssen – siehe etwa Heimaey!).
   
Es folgt eine kurze Reihung von Beispielen und Unterkategorien und die Feststellung, dass DT in jüngerer Zeit ein großes Wachstum erlebt habe, obwohl es „nicht dem üblichen Klischee einer unbeschwerten Urlaubsatmosphäre“ entspricht (S. 5). Wie zu erwarten folgt die Anmerkung, dass DT „umstritten“ ist, doch daran schließt sich erfreulicherweise sofort die Klarstellung an, dass die häufig unterstellten Motive der Reisenden wie „Sensationslust und Voyeurismus“ durch zahlreiche Studien widerlegt worden sind und tatsächlich seriöse und respektable Gründe überwiegen. Danke! Ich weiß nicht, in wie vielen Interviews ich selbst schon ähnliches gesagt/geschrieben habe; dennoch bleibt es ein immer wiederkehrender Reflex in den Medien, irgendwelche moralisch niedrigeren Motive zu unterstellen. Dieses einmal so klar vom Tisch gewischt zu sehen, wie auf gleich der ersten Seite dieses Buches, ist äußerst begrüßenswert. Ich hoffe, genug Journalisten mögen davon Notiz nehmen!
   
Dass das „Phänomen“ DT (wieso muss es eigentlich immer „Phänomen“ heißen? … so phänomenal ist es doch gar nicht, wenn man mal die sensationsheischende Medienbrille abnimmt!) als Gegenstand der akademischen Forschung einen enormen Boom über die letzten gut 20 Jahre erlebt hat, wird betont. Dann folgt ein Statement zur Zielsetzung des Buches, den Forschungsstand „verständlich und anschaulich darzustellen“ (S. 6). Eine Liste der sieben Unterkategorien die gesondert behandelt werden und Danksagungen beschließen das Vorwort.
  
   
Dann blättert man um und es wird bunt: eine Doppelseite (S. 10/11) mit rosa-violettem Hintergrund (eigentümliche Wahl für das Thema) mit sieben eingesetzten Farbfotos: ein rundes in der Mitte, das erneut das Riesenrad von Pripyat zeigt, umringt von sechs Blöcken die offensichtlich die wesentlichen Motivationen für DT anreißen sollen, obwohl das nicht explizit so angekündigt wird. Da stehen nun links „Trauer“, „Voyeurismus“ und „Angstlust“ … musste das sein?!? Im Vorwort wurde eben noch Voyeurismus als Motivation als unwesentlich eingestuft, hier steht dasselbe gleich an zweiter Stelle und dazu noch illustriert an einem kontroversen Beispiel: dem Wrack der Costa Concordia im Jahre 2012, dessen Betrachtung durch Besucher als „Katastrophentourismus“ bezeichnet wurde. Also sind wir doch wieder bei den Negativ-Klischees gelandet! Unter „Trauer“ wird das Vietnam Veterans Memorial in Washington angeführt und unter „Angstlust“ Geister- und Gruseltouren und weiteres Edutainment. Auch nicht eben sehr repräsentativ für DT. Besser wird es auf der rechten Seite, wo „Gedenken“, „Information“ und „Verehrung“ angeführt werden. Die ersteren beiden (wofür als Beispiele Tuol Sleng und die Topographie des Terrors genannt werden) stehen m.E. tatsächlich bei einem Großteil von DT im Mittelpunkt, während „Verehrung“ hier im Sinne von Besuchen von Gräbern von Berühmtheiten gemeint ist. Auch auf dieser Doppelseite zeigt sich also wieder eine ziemliche Unausgewogenheit.
 
   
Richtig ins Thema eingestiegen wird dann mit dem Kapitel „Dark Tourism – das Stiefkind des internationalen Tourismus?“. Los geht es mit der Gegenüberstellung von auf der einen Seite den üblichen Ferien-Klischees von Strand, Unbeschwertheit und Abschalten vom Alltag, wie sie die Tourismusbranche angeblich gerne bedient (obwohl es da ja auch Ausnahmen gibt, gerade im Kulturtourismus oder Abenteuertourismus), und auf der anderen Seite die Realität „dunkler“ Geschichte, Gefängnissen, Katastrophen-Orte, etc., die als „dissonante[s] kulturelle[s] Erbe“ bezeichnet werden (S. 13) – was wiederum eine verbreitete akademische Ausdrucksweise widerspiegelt („dissonant heritage“ im Englischen).
   
Es folgen ein paar ausgewählte Beispiele dunkler Besucher-Magneten wie Pere Lachaise, Pearl Harbor, Dachau und Anne-Frank-Haus. Für Letzteres gibt es gar eine Grafik, die den Anstieg der Besucherzahlen illustriert. Dies ist ein Vorgeschmack auf eine Charakteristik des Stils dieses Buches, die sich fast durch alle Teile zieht: Immer wieder wird der laufende Text von Bullet-Point-Listen sowie Grafiken, Tabellen, Diagrammen und Fotos unterbrochen; auch von zahlreichen farblich abgesetzten Themenblöcken (wieder dieselbe rosa-violette Farbe), hier einer mit einer Liste von dunklen Orten, die auf der UNESCO-Welterbeliste stehen (z.B. Auschwitz, Goree, Robben Island). Ein zweiter Block widmet sich dem „Schindler-Tourismus“ in Krakau und beschreibt, wie mitunter Touristifizierung, angeregt gerade durch Spielfilme, mit historischer Ungenauigkeit einhergehen kann.
   
Es werden einige Gründe für die wachsende Popularität von DT ins Feld geführt. Dazu gehört der Wandel des Kulturbegriffs, der nun eben auch „Dunkles“ einbezieht (wie die UNESCO-Liste zeigt), der Einfluss der Massenmedien und in jüngerer Zeit auch der sozialen Medien, wobei der Autor das Teilen dunkler Reiseerlebnisse auf Instagram oft „fragwürdig“ findet (dazu hätte ich gerne Genaueres erfahren). Auch der expandierende Städtetourismus wird als Faktor gesehen, ebenso wie der Fall des Eisernen Vorhangs, durch den v.a. für westliche Touristen viel Neuland zugänglich wurde. Außerdem merkt der Autor einen Wandel in den Ansprüchen und Erwartungen auf Seiten der Reisenden an, die sich immer weniger mit standardisierten Angeboten zufriedengeben, sondern auf der Suche nach Ungewöhnlichem seien und dabei danach trachten, ihren Horizont zu erweitern. In der Tat halte auch ich dies für die entscheidendsten Aspekte im DT.
  
Schließlich wird auf Fragen eingegangen, wie sich die Angebotsseite, Marketing und Management gegenüber DT verhalten sollen. Dabei seien zu beachten: die Motive der Besucher („fragwürdige“, wie Voyeurismus, oder „ernsthafte“ wie „tiefes Interesse an historischen Ereignissen“), der angemessene Umgang mit dunklen Stätten (etwa wie weit dürfen Musealisierung und Rekonstruktion gehen?), und Fragen wie: wie viel „Emotionalisierung“ ist zulässig, inwieweit sind die Ansprüche der „Digital Natives“ zu berücksichtigen, wie viel Kommerzialisierung darf sein, etc.?
   
Der nächste Abschnitt untersucht die „historischen Wurzeln“ von DT und geht dabei, wie in der akademischen Literatur nicht unüblich, bis ins Altertum zurück, etwa zu Gladiatorenkämpfen und öffentlichen Hinrichtungen. Dass die Zuordnung solcher Dinge zu DT nicht unumstritten ist, wird leider verschwiegen, ebenso der Umstand, dass beispielsweise eine ganze Schule der DT-Forschung das Thema ausschließlich in der Moderne verankert sieht. Dieser Haltung, die durch die frühen Pioniere der DT-Forschung, Lennon/Foley, begründet wurde, folge ich selbst auf dieser Website ja auch weitgehend (außer Pompeji und Orten des internationalen Sklavenhandels geht nichts weiter zurück als bis ins späte 19. Jahrhundert).
   
Betont wird dann aber, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit DT erst seit gut 20 Jahren erfolgt, wobei in dem Zeitraum unzählige Studien entstanden sind. Gleichwohl bleibe der Begriff DT „unpräzise“, sowohl was die verschiedenen Typen von dunklen Orten angeht als auch die „heterogenen Gründe“ für das Besuchen derselben. Das ist zweifelsfrei der Fall.
   
Dass die Verbreitung der Bezeichnung auch von Vorbehalten in der öffentlichen Wahrnehmung begleitet wird, ist ein weiterer Aspekt. Dabei werde DT aber oft zu begrenzt mit Katastrophentourismus gleichgesetzt (d.h. bei aktuellen Ereignissen, wie dem vom Hurricane Katrina gebeutelten New Orleans im Jahre 2006) und Voyeurismus als primäres Motiv unterstellt. Dass so eine Sichtweise dem Thema aber überhaupt nicht gerecht wird, wird in zwei wichtigen Bullet-Points ganz klar hervorgehoben: Zum einen sei es grundsätzlich unzulässig, aus der Anwesenheit von Touristen an einem dunklen Ort unmittelbar Rückschlüsse auf deren Motive zu ziehen, und zum anderen haben zahlreiche Fallstudien belegt, dass mehrheitlich eher ein ernsthafter Wunsch nach Auseinandersetzung mit der betreffenden Thematik vorliegt, es sogar um existenzielle oder kathartische Erfahrungen gehen könne. Ebenfalls sehr wichtig ist die Feststellung, dass Besucher von Gedenkstätten oder Soldatenfriedhöfen sich womöglich gar nicht als Touristen sehen und erst recht nicht als Dark Tourists, es aber „qua definitionem“ natürlich dennoch sind (S. 20).
  
Dies wird auch nach meiner Erfahrung in der Tat oft einfach nicht gesehen, dabei ist es doch ganz einfach: Wenn DT definiert wird als das Reisen zu in irgendwelcher Weise „dunklen“ Orten, dann sind *alle*, die das aus freien Stücken und privat tun (also nicht als Forschungsreisende oder Schülergruppen-Ausflüge) zwangsläufig Dark Tourists. Diese Logik ist glasklar und nicht verhandelbar. Dennoch kommt es vor, dass z.B. Gedenkstättenleiter sich bemüßigt fühlen zu sagen, man wolle aber bitte keine Dark Tourists haben. Dass das notwendigerweise gleichbedeutend ist mit „wir wollen gar keine Privatbesucher“, scheint schwer begreiflich zu sein. Aber zurück zu dem hier rezensierten Buch:
   
Im folgenden Abschnitt wird die enorm breite Palette dessen, was als DT eingestuft wird, dargelegt. Dabei wird das Netz wirklich sehr weit ausgeworfen und schließt – im Gegensatz zu beispielsweise dieser Website – auch Slumtourismus und „kommerzielle Gruselerlebniswelten“ (wie Dungeons) mit ein. Verschiedene Abgrenzung werden vollzogen, wie etwa „erziehungsorientiert vs. unterhaltungsorientiert“ oder „in situ vs. ex situ“, und dabei die Frage der Authentizität, oder auch zeitlich nahe vs. zeitlich fern, und noch manche Gegensätze mehr. Es wird also die Komplexität des Themas unterstrichen. Seinen eigenen Ansatz für die anschließenden Kapitel stellt der Autor in eine Liste von fünf Fragestellungen zusammen: 1) Zielsetzungen und Narrative, 2) Interessenkonflikte von „Stakeholdern“, 3) Bedeutung als touristische Attraktion, 4) Erwartungen und Reaktionen der Besucher und 5) Herausforderungen im touristischen Marketing und Management.
   
Abschließend sind noch zwei Listen von Quellen angeheftet. Zum einen Bibliographien, Handbücher etc. aus dem akademischen Bereich sowie online-Quellen. Unter Letzteren ist erfreulicherweise auch diese, meine eigene, Website mit verzeichnet, während die übrigen nur Teilbereiche abdecken, etwa Gedenkstättenverbände oder Holocaust-Archive sowie wiederum eine akademische Website. Weitere Erwähnungen meiner Website finden sich in dem Buch nicht, mir scheint jedoch, dass sie zumindest bei der Auswahl von DT-Beispielen eine Rolle gespielt haben dürfte. Die folgenden Kapitel haben zumeist noch weitere Auflistungen an Quellen bzw. Lesetipps zu den jeweiligen Unter-Themen, was dem Charakter des Buches als Einführung gut zu Gesicht steht.
  
  
Im ersten spezifischen Themenkapitel geht es dann um „Stätten des Holocaust und des Völkermords“ – und damit sind wir mitten in einem prototypischen Kernbereich von DT. Auschwitz spielt hier erwartungsgemäß die wichtigste Rolle, es werden aber auch die anderen einschlägigen KZs erwähnt sowie verwandte nicht-KZ-Orte wie Babyn Jar. Auch Täterorte werden dem gegenübergestellt, wie das Haus der Wannseekonferenz, Wolfsschanze oder Obersalzberg, sowie Gedenkstätten „ex situ“ wie Yad Vashem oder das USHMM. Eine Tabelle der jeweiligen Besucherzahlen zeigt dabei ein deutliches Gefälle, von Auschwitz mit 2,2 Millionen Besuchern im Jahr bis zu Flossenbürg mit gerade mal 91.000. Diese Diskrepanzen werden einerseits Marktgesetzmäßigkeiten zugeschrieben, andererseits aber auch dem „selektiven Blick“ der Touristen, die anscheinend stets auf der Suche nach dem „Superlativ“ seien (S. 28).
   
Im Folgenden geht es um die Transformation von Stätten der NS-Vergangenheit, wobei die Anfänge meist bescheiden waren und erst durch gezieltes Bemühen die Einrichtung von Gedenkstätten ermöglicht wurde. Im weiteren Verlauf kam es auch zu Rekonstruktionen und erweiterter Memorialisierung, die mitunter auch auf Kosten der Authentizität ging (etwa die Nachbauten von Häftlingsbaracken in Dachau). Auch der Wandel in der demographischen Besucherstruktur wird herausgestellt, von anfänglich v.a. überlebenden Opfern und Familienangehörigen über schulische Lernbesuche bis zur tatsächlichen Touristifizierung und auch Internationalisierung.
   
Im anschließenden Abschnitt geht es um die Motive und Reaktionen von Besuchern. Dabei wird zunächst auf die Schwierigkeiten bei der Datenerhebung hierzu verwiesen, weshalb auch auf Kommentare in einschlägigen online-Portalen, wie insbesondere TripAdvisor, zurückgegriffen wird. Herauskristallisiert werden Wünsche nach Erfahrung von Ortsauthentizität, nach Information und besserem Verständnis sowie Auseinandersetzung mit dem Leid der Opfer. Die Rolle von Schulunterricht sowie der Medien, vor allem so berühmte Filme wie „Schindlers Liste“ als „Trigger“ für einen Besuch, wird ebenso betont. Was die Reaktionen und Wirkungen anbetrifft, so sind einerseits wohl tatsächlich unmittelbare und auch längerfristige Effekte auf die Besucher zu belegen, aber es wird auch als nur „kurzzeitpädagogisch“ und überlagernd kritisiert (S. 34). Das Problem der Besucherzahlen gerade in Auschwitz als erschwerender Faktor, sowie das mitunter unangemessene Besucherverhalten Einzelner, spielt ebenfalls eine Rolle.
   
Damit es auch wieder schön kontrovers wird, behandelt ein Themenboxen-Text dann einschlägige Beispiele von problematischem Verhalten Prominenter sowie die generelle Selfie-Kontroverse. Es werden aber auch die Möglichkeiten der Nutzung der neuen Medien seitens der Betreiber angerissen.
   
Ein langer Themenblock stellt außereuropäische Orte von Völkermord vor, Tuol Sleng und Choeung Ek in Kambodscha sowie das Kigali Genocide Memorial in Ruanda. Die übermäßige Herausstellung der Anpassung dieser Stätten an internationale Besuchererwartungen legt dabei den Verdacht nahe, dass der Autor nicht mit den übrigen Gedenkstätten in Ruanda vertraut ist, die zum Teil vollkommen anderer Natur und gerade aus internationaler/westlicher Sicht so verstörend sind, gerade weil sie nicht standardisierten westlichen Formaten entsprechen (vor allem Murambi und Nyamata). Dass die Gedenkstätten außerhalb Kigalis sich auch dezidiert an die einheimische Bevölkerung richten, wird ebenfalls unerwähnt gelassen (siehe hierzu auch meine eigene Studie in diesem Buch).
   
Der letzte Unterabschnitt dieses Kapitels behandelt das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Emotionalisierung und die Herausforderungen an Management und Marketing. Als ein problematischer Fall wird das Anne-Frank-Haus in Amsterdam angeführt, welches weitgehend eine Rekonstruktion sei (womit nur die Raumausstattung gemeint sein kann, der Ort selbst ist ja authentisch) und als zu kommerziell ausgerichtet gesehen wird. Dem Haus des Terrors in Budapest wird zudem vorgeworfen (in der Tat nicht zu Unrecht), zu sehr auf effekthaschende audiovisuelle Dramatik zu setzen. Da gebe es aber auch schlicht unterschiedliche nationale Stile. In Deutschland gibt es beispielsweise sogar einen Kodex für NS-Gedenkorte, die sich eine Richtschnur gegeben haben, nach der auf übermäßige Emotionalisierung (oder gar „Überwältigung“) zu verzichten sei, ein Kontroversitätsgebot gelte (keine politisch-moralischen Dogmen) und Gegenwartsbezug ermöglicht werden soll. Die Kontroversen um gastronomische Angebote und Souvenir-Verkauf werden angeführt, sowie auch demografischer Wandel, etwa dass zunehmend auf Digitalisierung gesetzt wird, zum einen um auf die Erwartungen Jüngerer einzugehen und zum anderen, um den allmählichen Verlust von Zeitzeugen zu kompensieren. Das Problem des Umgangs mit Rechtsradikalen wird in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht verschwiegen.
  
   
Bei dem dritten Kapitel handelt es sich um das „Experteninterview“, welches auf dem Klappentext des Buches groß als Bonus angekündigt wird. Es ist aber gerade mal gut fünf Seiten lang. Das Gespräch hat der Autor mit dem Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg geführt. Wie fast schon zu erwarten geht es dabei vorwiegend um die didaktischen Aspekte und logistische Probleme, während der Leiter der Stätte sich gegen das Etikett „dunkler Ort“ wehrt, weil es ihm „zu modisch, zu sensationalistisch, zu eng und gleichzeitig zu unscharf“ sei (S. 46). Dennoch bleibt Flossenbürg natürlich per definitionem ein dunkler Ort, ob das einem nun passt oder nicht – ich verweise hier auf meine Bemerkungen zur Logik oben. Interessant fand ich die Aussagen über digitalen Techniken als bloße „Surrogate“ für Zeitzeugen und generell die Bedeutung der Ortsauthentizität, die sich durch digitale Hilfskonstruktionen nicht ersetzen lasse, die oft eh nur „technizistische Mode oder schlicht Blödsinn“ seien (S. 48). Ebenfalls bemerkenswert sind die Aussagen zu der angeblichen Zunahme respektlosen Verhaltens, die der Gedenkstättenleiter als „Schimäre“ bezeichnet (S. 49). Generell sei solches Verhalten, oder auch Störungen durch Rechtsradikale, extrem selten, und 99.9% der Besucher seien sehr willkommen.
   
  
In Kapitel Vier geht es um „Schlachtfelder und militärische Einrichtungen und Militärmuseen“, also um Krieg. Letztere gehören ja zu einer der offensichtlichsten Arten dunkler Kapitel in der Geschichte und dazugehörige Orte sind darum auch wesentlicher Bestandteil von DT. Wieder verweist der Autor auf historischen Schlachtfeldtourismus, etwa nach Waterloo, der nach meiner Ansicht (und der von Lennon/Foley) nicht unbedingt zu DT zu rechnen ist. Ebenso wird wieder auf den Einfluss von Medien und vor allem Filmen verwiesen. So ähnlich wie bei NS-Gedenkstätten wird auch hier eine starke Hierarchie beobachtet, die mit einer Tabelle von Orten mit jeweiligen jährlichen Besucherzahlen untermauert wird, auf der Pearl Harbor und Hiroshima ganz oben stehen. Soweit nichts Überraschendes. Interessant ist dagegen die Darstellung früher Formen von Schlachtfeldtourismus unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, die von morbiden Besuchen in Schützengräben (teilweise noch mit Leichen) und noch qualmenden Ruinenlandschaften bis zu patriotischen Veranstaltungen und Trauertourismus reichten. Laut des Autors dieses Buches vollzog die Evolution der WW1-Gedenkstätten schließlich einen Wechsel von der langen Trennung in Freund und Feind hin zu einer übergreifenden europäischen Erinnerungskultur (im Falle von Verdun auch im Zuge der deutsch-französischen Aussöhnung). Mit zunehmendem Zeitabstand sei dabei auch der Charakter von Pilgerreisen zurückgegangen und allgemeinerer Touristifizierung gewichen. Ich bin mir da nicht ganz so sicher. Ich hatte bei meinen Begegnungen mit anderen WW1-Touristen in der Somme mehrfach den Eindruck, dass diese sich sehr wohl noch als Pilgerfahrer verstanden. Auch meine britische Frau bestand darauf, im Zuge unserer Reise das Grab von Wilfred Owen aufzusuchen (ein in Großbritannien nach wie vor bekannter Kriegsdichter aus der Zeit).
   
Als ein Problem mit militärischen Museen/Orten wird festgestellt, dass viele Besucher sich ausschließlich für die Details der Kämpfe und vor allem für die ausgestellte Technik interessieren, weniger für Gedenken (das ist in der Tat sehr oft zu beobachten, gerade unter männlichen Besuchern aller Altersgruppen!). Das stelle eine Herausforderung für „seriöse“ Museen/Gedenkstätten dar. Als lobenswerte Beispiele werden u.a. Peenemünde und das Militärhistorische Museum in Dresden angeführt. Am ausführlichsten behandelt der Autor Hiroshima, was auch ökonomisch stark von internationalem „Nukleartourimus“ profitiert, während Nagasaki das weit weniger tut. Wieder also gibt es eine Hierarchie der Orte, von DT-Stars gegenüber weniger massenhaft besuchten Stätten.
   
In einem eigenen Unterabschnitt geht es um Show und Kommerz, und hier werden gerade auch jene „Re-enactments“ von Schlachten ins Feld geführt, die auf dieser Website explizit ausgeschlossen werden. Auch weiß ich von einem Bekannten, der an solchen Inszenierungen regelmäßig teilnimmt, dass er es überhaupt nicht als Tourismus begreift. Andererseits scheint es auch derartige Shows mit großem Publikum zu geben, das eigens dazu anreist. Ich würde es dennoch eher als Festival-Tourismus begreifen denn als DT.
   
Dass es im Schlachtfeldtourismus durchaus auch Konkurrenz-Situationen gibt, wird wieder anhand des Ersten Weltkriegs beleuchtet, wo Verdun mit der Somme und Ypern in Konkurrenz stehen. Meines Erachtens gilt das für die beiden letzteren untereinander noch sehr viel mehr, weil dort britische Truppen kämpften und deshalb ein Großteil der Besucher aus GB anreist und sich womöglich zwischen dem einen oder anderen entscheiden muss, während Verdun weit überwiegend von Deutschen und Franzosen besucht wird und der Ort für diese kaum in Konkurrenz zu den anderen Westfront-Orten steht. Außerdem seien die einzelnen Gedenkstätten Konkurrenten innerhalb ihres eigenen Bereichs. Das mag zum Teil sicher zutreffen, und ich habe auch relativ wertende Aussagen in der Somme gehört bezüglich neuerer Museen und Gedenkstätten, andererseits liegt die Eröffnung so mancher neuer solcher Einrichtungen vor einigen Jahren auch schlicht am hundertjährigen Jubiläum der Schlachten, weniger an einer Konkurrenzsituation.
   
Eine Themenbox mit einem besonders kontroversen Fallbeispiel muss in diesem Zusammenhang natürlich auch sein, und dazu dient hier der „Vietcong-Park“ in Vietnam. Hierzu gehören die Cu-Chi-Tunnel, welche, wie hervorgehoben wird, für fülligere West-Touristen (vor allem aus den USA) eigens verbreitert wurden. Auch die fragwürdigen kostenpflichtigen Schießübungen in der Nähe werden angemerkt. Vor allem sei aber in jüngerer Zeit eine Art „Popcolonization“ eingetreten (S. 73), in der die Gründe für den Vietnamkrieg und die Schrecken der Kriegshandlungen (gerade gegenüber Zivilisten) in den Hintergrund rücken. Für Cu Chi mag das in der Tat schwer zu bestreiten sein, aber an anderen Orten des Vietnamkriegs, My Lai etwa, oder das zum Teil sehr drastisch realistische War Remnants Museum in Ho Chi Minh City gilt das ganz sicher nicht.
   
  
Im fünften Kapitel werden an sich völlig unterschiedliche Dinge zusammengemischt: „Orte von Terroranschlägen, Naturkatastrophen und Nuklearunfällen“. Zwar wird eine weitere Tabelle von 14 solcher Orte bereitgestellt, mit entweder jährlichen Besucherzahlen oder aber ihrem Ranking auf TripAdvisor, sodass wieder eine Hierarchie erkennbar wird, aber im Folgenden konzentriert sich das Kapitel auf ausgewählte einschlägige Paradebeispiele. Für Orte des Terrorismus muss wenig überraschend das National 9/11 Memorial in New York herhalten. Ebenso wenig überrascht es, dass die weit verbreitete und viel diskutierte Kritik an der Über-Emotionalisierung sowie an der Kommerzialisierung betont wird. Zwar ist vor allem der Patriotismus-Aspekt an diesem Ort in der Tat vielfach zumindest gewöhnungsbedürftig (aber in den USA nun wirklich keine Seltenheit), aber man sollte auch differenzieren. Außerhalb der Hauptausstellung im Museums-Teil sind so manche Teile für Nicht-Amerikaner wohl wirklich zu dick aufgetragen, aber man dürfte auch mal erwähnen, dass die historische Ausstellung, gewissermaßen der Kern der Stätte, ganz anderer Natur ist und sehr sachlich die verschiedensten Aspekte beleuchtet und in großer Detailfülle – so sehr, dass ich auf dieser Website das 9/11-Museum auf Platz 1 der dunklen Museen weltweit gestellt habe. Das bezieht sich nota bene nur auf diese Haupt-Ausstellung, nicht auf die gesamte Gedenkstätte. Dass muss man bitte schön unterscheiden! Der andere große Kritikpunkt, dass der große Museumsladen zu viel Kommerz und Kitschifizierung betreibe, muss auch eingeschränkt werden. So darf nicht, wie in diesem Buch leider der Fall, verschwiegen werden, dass der Besuch des Verkaufsgeschäfts völlig optional ist. Es ist nicht so wie in so vielen anderen (auch dunklen) Museen, dass man als Besucher nur durch das Durchschreiten des Geschäfts zum Ausgang kommt. Nein, wer den Laden nicht besuchen möchte, kann ihn in diesem Fall unproblematisch links liegen lassen. Er bleibt also ganz freiwillig. Insofern greift der Kommerzialisierungsvorwurf auch nur zum Teil. Dass so manche Souvenirs, die dort angeboten werden, nicht immer die geschmackvollsten sind, sei dagegen unbestritten. Ebenso unbestreitbar ist, dass das 9/11-Memorial einen Sonderstatus hat – kein anderer Terrorakt wird dermaßen aufwändig (und teuer) mit einer oft überhöhten Erinnerungskultur bedacht. Das habe auch wieder mit den Medien zu tun, aber auch mit dem Willen der „Stakeholder“, diesen Aufwand gezielt zu betreiben. Quasi als Gegenteil wird in einer Themenbox kurz der Fall eines aufgegebenen Gedenkorts für den Anschlag auf Utøya in Norwegen angeführt.
   
Im Abschnitt zu Naturkatastrophen wird zunächst Pompeji angeführt, das allerdings auch als Sonderfall begriffen wird, bevor es wieder zur Kontroverse um den sogenannten Katastrophentourismus kommt. Hervorgehoben wird aber auch, dass es zu einer anhaltenden Institutionalisierung des Gedenkens nur unter bestimmten Bedingungen, nicht zuletzt finanziellen, kommt. In der Tat werden viele der sich auch noch häufenden Naturkatastrophen überhaupt nicht in eine Erinnerungskultur eingeführt, sei es in Haiti, Bangladesch oder Pakistan, die auch gar nicht so ohne weiteres die Mittel dafür hätten. Dagegen seien im reichen Japan „große Erinnerungsstätten errichtet worden“ (S. 89) nach dem Tsunami von 2011. Ich wüsste gerne wo, denn ich habe auf meiner Forschungsreise in das Tsunamigebiet im Jahre 2019 nur sehr kleine Gedenkstätten ausfindig machen können (etwa hier), und andere, größere Stätten wie die Schulruine von Okawa sind ja nicht „errichtet“, sondern lediglich als Mahnmal erhalten worden. Dass es nicht viele Gedenkstätten zu Naturkatastrophen weltweit gibt, wird darauf zurückgeführt, dass es einerseits so viele solcher Ereignisse gibt und immer wieder neue, so dass das öffentliche Interesse nicht bei allen haften bleiben kann, zum anderen hat Wiederaufbau nach einer solchen Katastrophe immer die oberste Priorität. Nur in einzelnen Fällen besteht auch der politische Wille zu einer langfristigen Erinnerungskultur in diesem Bereich. China etwa habe mehrere staatlich angeordnete und geführte Erdbeben-Gedenkstätten.
   
Im letzten Unterabschnitt dieses Kapitels steht schließlich Tschernobyl im Vordergrund. Leider zeigt sich da für jemanden wie mich, der sich mit der Materie recht gut auskennt, sehr schnell, dass dies bei dem Autor dieses Buches nicht so der Fall ist. Vieles ist verkürzt/vereinfacht, verdreht und teilweise schlicht falsch. Zum einen ist da wieder die Behauptung, Tschernobyl habe zweihundertmal mehr radioaktives Material freigesetzt als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki. So etwas kann man zwar immer wieder mal lesen, aber dadurch wird es nicht zutreffender. Vor allem hinkt dieser Äpfel-und-Birnen-Vergleich mehr als nur ein bisschen, da es sich bei den beiden Ereignissen um fundamental unterschiedliche physikalische Prozesse gehandelt hat, mit unterschiedlichen Formen von Strahlung. Aber der „Dramatik“ hilft die Aussage natürlich (denn der Leser ohne Vorkenntnisse wird dies lesen als „Tschernobyl war zweihundertmal so schlimm wie Hiroshima und Nagasaki“ – was aber leider vollkommener Quatsch ist!). Und um Dramatik scheint es hier auch wirklich zu viel zu gehen. Immer wieder ist von der großen Gefährlichkeit der Verstrahlung von Tschernobyl zu lesen, dabei sind weite Teile der Zone heute vollkommen unbedenklich und im Ort Tschornobyl herrscht eine geringere Hintergrundstrahlung als in Kiew. Auch von einem „hohen Stacheldrahtzaun“ rund um die Sperrzone ist die Rede (S. 94), obwohl vielfach Flüsse die Grenze bilden, und wo tatsächlich Stacheldrahtzäune stehen, sind diese oft mehr als durchlässig (in diesem Buch sind Fotos zu sehen, die dies belegen).
  
Auch wenn davon die Rede ist, es seien „600.000 Arbeiter als ‚Bio-Roboter‘ zum Einsatz“ gekommen, die „sich jeweils nur für wenige Sekunden auf dem Dach des Gebäudes aufhalten“ durften (S. 93), dann klingt das zwar gewaltig, ist aber irreführend, denn es war nur eine kleine Gruppe von Liquidatoren, die diese gefährlichen Einsätze durchführten. Der allergrößte Teil der 600.000 Arbeiter wird nie auch nur in die Nähe des Havarie-Reaktors gekommen sein, sondern eher mit Dekontaminierungsarbeiten andernorts innerhalb der Zone beschäftigt gewesen sein.
   
Des Weiteren findet sich auch hier die Behauptung, es gebe erst seit 2011 offizielle Touren nach Tschernobyl, und dass zuvor nur Wenige Zugang erhalten hätten, etwa ehemalige Anwohner oder Wissenschaftler. Das ist falsch, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Meine erste Tschernobyl-Tour war im Jahre 2006, der Touranbieter zu dem Zeitpunkt schon fest etabliert und der Ablauf von Anmeldung bis Durchführung unterschied sich von den heutigen Tagestouren im Wesentlichen nur dadurch, dass weniger Teilnehmer dabei waren (wir waren nur zu sechst, heute sind Gruppen von über 30 alles andere als selten). Was sich 2011 nur änderte, war, dass der Staat sich in den Tour-Betrieb einmischte und diesen so umorganisierte, dass in der Folge Einnahmen aus den Touren auch der staatlichen Seite zukamen.
   
Als wesentliche Auslöser für das öffentliche Interesse an Tschernobyl-Touren sieht der Autor dann in zwei der einschlägigen Bildbände mit Fotos aus der Sperrzone. Das Erscheinungsjahr des einen der beiden wird mit 2019 angegeben – aber wie soll etwas aus dem Jahr etwas ausgelöst haben können, das angeblich bereits 2011 anfing (und in Wahrheit noch viel früher)?!? Auch die Interpretation, dass dies in der „Tradition der Ruinenromantik des 18. und 19. Jahrhunderts“ stehe (S. 95), halte ich für fragwürdig. Bei dieser stand eher eine romantische Verklärung der Vergangenheit im Vordergrund, bei Tschernobyl dürfte das allenfalls für eine kleine Zahl der Besucher der Fall sein.
  
Der Einfluss von Medien wie Computerspielen (v.a. die S.T.A.L.K.E.R. Serie), Filmen und Dokumentationen erwähnt der Autor auch, vor allem natürlich die preisgekrönte HBO-Serie „Chernobyl“ von 2019. Ebenso wird angemerkt, dass manche Eindrücke, die man vor Ort bekommt, insbesondere solche mit Kindergartenpuppen, eher „Inszenierungen“ sind, die Touristen selbst erst so arrangiert haben, sodass sie atmosphärische Fotos hergeben.
   
Aus all dem aber auf eine „imaginäre Geografie“ eines „hyperrealen“ Ortes zu schließen (S. 97), geht zu weit, ebenso die zitierte Kritik, die „Sperrzone ist heute vor allem ein düsteres Disneyland“ (S. 99). In Disneyland ist absolut gar nichts authentisch, in Tschernobyl immer noch das Allermeiste. Die oft erwähnten Manipulationen sind nur ein winziger Teil des Ganzen. Und das Ausmaß an Kommerzialisierung in Disneyland ist ebenfalls in einer ganz anderen Größenordnung, auch wenn man die neuerdings entstandenen Souvenirgeschäfte am Haupt-Checkpoint der Sperrzone bedenklich finden mag. Dass der Autor sich so manches in einem einschlägigen Artikel von Philip Stone abgekuckt hat, merkt man dann auch wieder an der Verwendung des Foucaultschen Begriffes der „Heterotopie“ (siehe meine Kritik daran).
    
Nebenbei zieht der Autor pauschal über „urban explorers“ her (in diesem Fall waren wohl die „Stalker“ gemeint, auch wenn der Begriff nicht einmal fällt, also Besucher, die illegal in die Zone eindringen), deren Aktivitäten er „obskur“ und „infantil“ schimpft. Dass es in dem Bereich Kritikwürdiges gibt, sei unbestritten, dass das Thema aber wesentlich komplexer ist als so eine einseitige Darstellung, kann man beispielsweise einer deutlich besseren Abhandlung zu Tschernobyl entnehmen – nämlich dieser! Dessen Lektüre hätte dem Autor generell gutgetan, aber dafür war das Erscheinungsdatum offensichtlich zu spät, so dass eine Einbeziehung nicht mehr möglich gewesen ist. Darüber hinaus verwirrt die Aussage, dass „bis heute […] im Internet noch zahlreiche Berichte und Fotos solcher illegalen Aktionen zu finden“ seien (S. 97), ganz so, als seien diese nun Vergangenheit. In Wirklichkeit aber haben sie eher noch zugenommen in jüngerer Zeit.
   
Der Autor scheint davon auszugehen, dass alle Touren in Tschernobyl denselben Charakter haben wie die Tagesausflüge per Bus aus Kiew, in denen lediglich ein Standardprogramm absolviert wird, bei dem „Schrecken, Leid und Tod der Opfer weitgehend in Vergessenheit“ gerieten (S. 99), und am Ende Selfies im Vordergrund stehen (die „teilweise geschmacklos“ seien). Dass es auch ganz anders geht, besonders bei längeren, thematisch tiefer gehenden privaten Touren in Kleinstgruppen, wird vollkommen ausgeblendet. Das hätte wohl dem zu erzeugenden Eindruck entgegengestanden, es handele sich bei einem Tschernobyl-Besuch stets nur um oberflächliche Unterhaltung. Das zeigt sich später im Buch auch an der Zuordnung von Tschernobyl am „hellen“ Ende der DT-Skala „Gedenken – Information/Aufklärung – Unterhaltung/Voyeurismus“ (auf S. 181 – siehe unten) … d.h. auf gleicher Höhe wie ‚Re-enactments‘ von Schlachten oder Gruselerlebniswelten (‚Dungeons‘ etc.). Da hätte den Autor ein Blick auf die Ranglisten auf dieser Website eigentlich stutzig machen müssen, wo Tschernobyl in der Dunkel-Skala ganz am anderen Ende, nämlich ganz oben steht. Aber so tief hat er sich offenbar mit meiner Website nicht befasst.
   
Abschließend fügt der Autor noch hinzu, dass es auch an anderen Orten ähnliches wie in Tschernobyl zu beobachten gebe, etwa in dem stillgelegten litauischen Atomkraftwerk vom selben Bautyp in Ignalina, das in der „Chernobyl“-Serie von HBO für den Dreh genutzt wurde und wo diese ebenfalls ein erhöhtes Besucheraufkommen ausgelöst habe. Und natürlich wird auch Fukushima noch erwähnt, wo ebenfalls „Touren für ausländische Besucher veranstaltet“ werden (S. 101). Für Leser, die es nicht besser wissen, wird damit eine Vergleichbarkeit mit Tschernobyl-Touren suggeriert, die aber ganz und gar nicht gegeben ist. Das Kraftwerk Fukushima-Daiichi kann von Normaltouristen gar nicht besucht werden (im Gegensatz zum AKW Tschernobyl!), und die Fukushima-Touren sind gänzlich anderer Natur, selbst wenn dabei auch „Geisterstädte“ in der dortigen Sperrzone eine Rolle spielen können – diese geben aber eher einen Einblick in zeitgenössisches japanisches Kleinstadtleben in der Provinz und nicht wie Pripyat einen Rückblick in die sowjetische Vergangenheit.
   
Am Rande: Die umstrittene Netflix-Serie „Dark Tourist“ von/mit David Farrier (2018), deren Fukushima-Episode einer der (vielen) Tiefpunkte der Serie war, erwähnt der Autor mit keiner Silbe irgendwo in dem Buch. Einerseits ist das auch gut so, aber andererseits hätte mich schon interessiert, was er zu dem Machwerk zu sagen gehabt hätte …
   
   
Als nächstes schließt sich ein „Exkurs: Slums, Townships und Armenviertel“ an – also kein vollwertiges Kapitel, auch wenn es vom Umfang (12 Seiten) und Aufbau eines hätte sein können. Wenn stattdessen nur von einem Exkurs die Rede ist, so könnte man meinen, dass diesem Bereich ein anderer Status zukomme als denen, die in den „richtigen“ Kapiteln behandelt werden. In der Tat würde ich genau das auch behaupten. Auf meiner Website werden Slumtouren daher überhaupt nicht behandelt. Aus guten Gründen, nämlich weil sich diese fundamental von allem anderen unterscheiden, was DT ausmacht. Dass dieser andere Status von Slumtourismus auch breit diskutiert wurde in der akademischen Community (damals allerdings noch per online-Forum und E-Mail-Listen – was den meisten heutzutage ja als altmodisch gilt), hätte zumindest Erwähnung finden können. Statt dessen wird so getan, als gehörten Slumtouren fest zu DT. Immerhin notiert der Autor, dass es laut Fallstudien den Teilnehmern solcher Touren offenbar ganz und gar nicht um „Armutspornografie“ gehe, sondern eher „bildungsbürgerliche Motive“ genannt werden, und von “Sensationslust keine Spur“ sei (S.106f), aber nichtsdestotrotz stoßen solche Touren auf Seiten der „Bereisten“ (bzw. der ungefragt begafften Einwohner solcher Slums) nicht immer und überall auf Gegenliebe, zumal auch fraglich bleibt, wie viel es der allgemeinen Slum-Bewohnerschaft wirtschaftlich wirklich bringt. Deshalb bleibe ich dabei, diese Form touristischer Angebote nicht unter DT zu fassen und weiterhin zu ignorieren. Also genug davon.
  
   
Das sechste Kapitel ist überschrieben mit „Grabmale und Friedhöfe“, und damit sind wir zurück in einem der unbestrittenen Kernbereiche von DT. Als erstes Beispiel, mit großformatigem Foto, kommt dann das Taj Mahal in Agra, Indien. Sicher, es ist als Mausoleum auch ein „Grabmal“, doch ich bestreite, dass der Umstand überhaupt eine nennenswerte Rolle dabei spielt, warum dieses Bauwerk jährlich von Millionen Touristen besucht wird. Vielmehr ist es die Ästhetik des ganzen Ensembles und die Tatsache, dass es sich um eines der ikonischsten Bauwerke der Welt handelt (wie der Eiffelturm in Paris oder das Kolosseum in Rom), das man gesehen haben „muss“, wenn man eine Indien-Reise unternimmt. Genau so ging es auch mir auf meiner Indien-Reise 2016/17. Die ursprüngliche Funktion als Mausoleum blieb dabei weit im Hintergrund, sogar bei mir als „Vollblut Dark Tourist“! Das andere Mega-Touristenziel in diesem Zusammengang sind die Pyramiden von Gizeh, ebenfalls ursprünglich Grabmale, aber meiner Ansicht nach heutzutage einfach ein „Must-See“. Wenn der Autor in der dazugehörigen Bildunterschrift fragt, ob die Cheops-Pyramide die „Mutter des Friedhofstourismus“ sei, scheint mir die Antwort glasklar: nein!
   
Die verschiedenen Funktionen und Typen von Grabstätten, von Friedhof über Grüften zu Massengräbern, werden mittels eines Schaubilds verdeutlicht, und auch die sekundären Funktionen werden herausgestellt, wozu auch schlichte Erholung in ruhigen und begrünten Arealen eine Rolle spielt. Konkreter wird es bei der Vorstellung eines guten Dutzend berühmter Friedhöfe. Da Daten über Besucherzahlen schwer zu erheben sind (Friedhöfe sind ja in aller Regel frei zugänglich), kann man nur auf Schätzungen zurückgreifen (etwa 3.5 Millionen im Jahr für Pere Lachaise), oder auf den jeweiligen Rang auf TripAdvisor. Weil Touristen aber jenen „selektiven Blick“ haben, kann nicht jeder Friedhof eine Touristenattraktion sein; dafür brauche es „Alleinstellungsmerkmale“ (S. 120). Dazu können gehören: spezielle Lage, architektonische Gestaltung, Natur (bzw. Garten-Charakter), historische Bedeutung und natürlich Gräber berühmter Personen. Eigentümlicherweise wird nicht mit erwähnt, was für mich bei meinen vielen Friedhofsbesuchen meist im Vordergrund steht: die Würdigung sepulkral-künstlerischer Stilistik einzelner Grabmale und deren Details (siehe vor allem Monumentale in Mailand, der hier gar nicht erwähnt wird) … es sei denn, das fällt unter „architektonische Gestaltung“. Unter den einschlägigen Beispielen von Friedhöfen als Touristenattraktionen sind der Wiener Zentralfriedhof, Ohlsdorf in Hamburg, La Recoleta in Buenos Aires oder Nowodewitschi in Moskau. Am Rande werden auch kurz „Suicide Spots“ wie Beachy Head, Aokigahara (Japan) oder die Golden Gate Brücke erwähnt, deren Rolle im DT aber bisher kaum erforscht sei.
   
Der Rest des Kapitels behandelt einerseits die Motive der Besucher, wobei ein angeblicher „morbider Kick“ kaum einmal eine Rolle spiele (S. 126). Vielmehr rangieren die Motive von Wallfahrt-Charakter über Identitätssuche, Kontemplation, Bildungsinteresse bis hin zu schlichter Neugier oder Entspannung in der Freizeit. Die Arten und Weisen, wie mit Friedhöfen aus Tourismus-Management-Sicht umgegangen werden kann/soll, nimmt ebenfalls breiten Raum ein – dazu gehören z.B. Beschilderung, Karten, Touren und heutzutage vor allem Smartphone-Apps. Auch moderne Strategien wie „Personalisierung“, „Storytelling“ und PR-Maßnahmen als „Inszenierung“ (S. 123) werden ins Feld geführt.
   
Damit auch Kontroverses nicht zu kurz kommt, geht der Autor dann auch noch auf bestimmtes Fehlverhalten einzelner Besucher ein, was von lautem Reden, Rauchen und Essen bis hin zu sexualisierten Inszenierungen oder gar Vandalismus reichen kann. Es wird aber betont, dass dies Ausnahmen sind. Eine separate Text-Box befasst sich mit Grabmälern „als Demonstration der Macht“ (S. 132). Hier sind natürlich vor allem die „Big 4“ Mausoleen zu nennen (Lenin, die Kims, Mao, Ho Chi Minh).
  
Dem „Totenkult um Prominente“ wird viel Raum gegeben und dabei steht Graceland mit dem Grab von Elvis Presley unangefochten an der Spitze. Dabei merkt der Autor an, dass bei all dem ein „helleres“ Spektrum an Motiven zu beobachten sei (S. 128) als bei Besuchern „dunklerer“ Orte wie Genozid-Gedenkstätten. Das ist fraglos richtig. Dies zeige sich auch im Verhalten von Besuchern. Während an Gräbern von Prominenten oft Gegenstände wie Stofftiere abgelegt werden, oder im Falle von Oscar Wildes Grab auf Pere Lachaise sogar Lippenstift-Kussabdrücke hinterlassen werden, würde bei Mahnmalen von Genoziden niemand auf ähnliche Gedanken kommen.
  
Unterm Strich handelt es sich bei diesem Kapitel insgesamt um eines der ausgewogeneren und erhellendsten Teile des Buches.
  
  
Thematisch ebenfalls sehr fokussiert geht es im folgenden Kapitel „Ehemalige Gefängnisse“ zu. Ein geschichtlicher Überblick stellt heraus, dass Gefängnisse, wie wir sie heute kennen, ein relativ junges Phänomen sind, das der Aufklärung entsprungen sei. Zu touristischen Attraktionen sind viele Gefängnisse geworden aufgrund ihrer imposanten Architektur (sogar das Gefängnis von Dartmoor, obwohl es nicht öffentlich zugänglich ist), vor allem aber in drei Grundkategorien: Haftanstalten als Orte der Repression in vergangenen autoritären Herrschaftssystemen dienen heute oftmals als Mahnmale und „typische Erinnerungsorte“, ganz so wie auch Genozid-Gedenkstätten. Andere ex-Gefängnisse seien so von ihrer Rolle in Massenmedien und Spielfilmen überlagert, dass sie zu „hyperealen Orten“ geworden seien (S. 141). Dazwischen liegen Gefängnisse in nicht-autoritären Staaten, die nach ihrer Schließung zu ungewöhnlichen „kulturellen Sehenswürdigkeiten“ geworden seien. Wieder ist zudem ein großes Gefälle bei den Besucherzahlen zu erkennen, was in diesem Buch an einer Tabelle von 10 bekannten ex-Gefängnissen ablesbar ist, auf der Alcatraz mit 1,4 Millionen Besuchern jährlich ganz oben steht, das Old Melbourne Gaol mit einem Zehntel davon ganz unten. Dazwischen finden sich bekannte Namen wie Hohenschönhausen, das ESP, Kilmainham oder Port Arthur.
   
Näher beleuchtet werden im folgenden Unterabschnitt zunächst die ex-Gefängnisse der ersten Kategorie, also Gedenkstätten, die Narrative von „Unterdrückung, Widerstand, Nationalstolz“ bieten (S. 141). Als das „bekannteste Beispiel“ wird Robben Island genannt, das zu einer wesentlichen Sehenswürdigkeit in Südafrika geworden ist, das für die Überwindung der Apartheid steht. Hier wird jedoch auch bemängelt, dass der Fokus des Narrativs dieses Ortes primär auf die Figur Nelson Mandela dazu führt, dass andere ehemalige Gefangene oder gar ganze Insassengruppen dabei kaum noch Erwähnung finden. Dass die Musealisierung eines ehemaligen Gefängnisses auch verschiedenen Phasen unterliegen kann, wird am Beispiel von Hoa Lo in Hanoi dargestellt, wo sich offenbar die Umgestaltung auf die Öffnung gegenüber dem Westen (vor allem den USA) und dem Tourismus insgesamt einstellte und heute ein gesäubertes „dekontextualisiertes“ Bild geboten werde, das vor allem die Behandlung amerikanischer Kriegsgefangener positiv darstellt, während die frühere Geschichte als brutales französisches Kolonialgefängnis überspielt werde.
   
In der zweiten Unterkategorie geht es um Gefängnisse, die der Inhaftierung nicht politischer Gefangener, sondern regulärer Straftäter dienten, und die nach ihrer endgültigen Schließung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Hier gehe es weniger um Gedenken und politisch-historische Narrative als um „Information, Legitimation, Affirmation“ (S. 148). Gemeint ist hier vor allem, dass solche Einrichtungen sich nicht auf das Leid der Inhaftierten konzentrieren, sondern, im Gegenteil, diese als moralisch verwerfliche Täter dargestellt werden, die ihr Schicksal verdient hatten. Zudem werde oft Effekthascherei betrieben, die bis an kontroverse Grenzen gehen kann, wie die früher auf Führungen eingelegte Erhängung einer lebensgroßen Puppe im West Virginia Penitentiary. Oft würde sich auch die Dämonisierung bestimmter berüchtigter Inhaftierter in den Vordergrund stellen, etwas Ned Kelly (Old Melbourne Gaol) oder Al Capone (ESP). Weitere – auch aus meiner Sicht sehr berechtigte – Kritik wird an jenen Spuk-Geschichten und Geisterjagden geübt, mittels derer so manche ex-Gefängnisse die Kommerzialisierung und Trivialisierung weiter erhöhen.
   
In der dritten Unterkategorie ginge all dies dann noch einmal weiter zu „Entertainment, Storytelling, Merchandising – ehemalige Gefängnisse als hyperreale Orte“ (S. 154). Dies wird vor allem am Beispiel von Alcatraz dargelegt. Zwar stimmt es, dass hier der Einfluss von Medien und vor allem Spielfilmen eine extrem große Rolle spielt, auch die individuellen Geschichten bestimmter Gefangener, und dass der Ort so zu einem Magnet für Massentourismus geworden ist, einschließlich der überbordenden Kommerzialisierung durch Souvenirgeschäfte. Allerdings finde ich die Kritik an dem angeblichen „scheuklappenartigen Blick“ (S. 156) des Narrativs von Alcatraz überzogen. Für den Kernbereich, dem Rundgang mit Audioguide durch den zentralen Zellentrakt, mag das noch teilweise zutreffen, aber es stimmt nicht, dass etwa die Besatzung der Gefängnisinsel durch Indianerstämme nach der Schließung des Gefängnisbetriebs in den 1960ern nicht hinreichend Beachtung fände. In einer eigenen Ausstellung zur Geschichte des Ortes außerhalb des zentralen Zellentraktes spielt diese Episode eine große Rolle. Auch kann man Alcatraz nicht vorwerfen, unkritisch gegenüber dem amerikanischen Justizsystem zu sein. Bei meinem Besuch 2015 war ich positiv überrascht, wie die Ungleichheit der US-Gefängnis-Insassen angeprangert wird, sowohl in ethnischer Hinsicht (überproportional Schwarze und Latinos) als auch was die Straftaten angeht (weit überwiegend sogenannte „victimless crimes“ wie Drogenbesitz oder Grenzverletzungen). Auch dass in den USA Gefängnisse privatwirtschaftlich, also kommerziell geführt werden, mit all der ethischen Bedenklichkeit, die das mit sich bringt, wird in den Ausstellungen nicht verschwiegen. Der Vorwurf der Enthistorifizierung und Dekontextualisierung zum Zwecke bloßen Entertainments greift daher nur dann, wenn man seinen Blick seinerseits scheuklappenartig nur auf die kritikwürdigen Aspekte legt und die Gegenbeispiele und anderen Aspekte ausblendet. Insofern kann man dem Autor anlasten, dass er sich selbst genau des Vergehens schuldig macht, das er sich so müht, Alcatraz zu unterstellen.
  
   
Das letzte thematische Kapitel behandelt schließlich „kommerzielle ‘dunkle‘ Besucherangebote“. Hinter diesem vagen Etikett versteckt sich ein Sammelsurium an Dingen wie Geisterbahnen, Grusel- und Gespensterführungen, Gruselerlebniswelten („dark fun factories“, wie es inzwischen standardisiert in der englischsprachigen akademischen Literatur heißt), zu denen vor allem die der Dungeons-Gruppe gehören, sowie Foltermuseen und die vieldiskutierten Körperwelten-Ausstellungen.
   
Immerhin merkt der Autor am Rande an, dass der Umstand, dass es sich hier weitgehend um lediglich inszenierte Unterhaltung handelt, manche Tourismusforscher dazu führt, solche Angebote überhaupt nicht dem Dark Tourism zuzurechnen. Und das eben aus guten Gründen. Auch aus meiner Sicht handelt es sich dabei um etwas fundamental anderes als echten DT. Dennoch wird diesem zweifelhaften Themenbereich wiederum die gleiche Aufmerksamkeit und detaillierte Diskussion zuteil wie den wirklichen Kernbereichen von DT. Ich will mich hier lieber kurzfassen und mich nicht in Details bezüglich angeblich Übersinnlichem etc. und den theatralen Mitteln der kommerzialisierten Inszenierung solcher Dinge verlieren.
   
Ein Unterabschnitt jedoch bringt uns zumindest wieder an die Grenzen von echtem, ernsthaften DT: medizinische Ausstellungen. Hier behandelt der Autor vor allem die kontrovers diskutierten „Körperwelten“, die hauptsächlich durch den Erfinder des Plastination-Verfahrens, Gunther von Hagens, bekannt gemacht wurden. Anstoß nehmen nicht wenige dabei an der Tatsache, dass hier echte Leichname plastiniert ausgestellt werden, nicht nur in (Körper-)Teilen, sondern auch als inszenierte Ganzkörper-Exponate. Darüber hinaus werden die ethnische Unausgewogenheit und die Darstellung von Frauen sowie die Freiwilligkeit der Körperspenden hinterfragt (und der Verdacht geäußert, manche der Körper könnten angekaufte chinesische Hinrichtungsopfer gewesen sein). Andererseits wird auch der Bildungsauftrag dieser Ausstellungen hervorgehoben, ebenso, dass ein Großteil der Besucher diesen auch sichtbar und nach eigener Aussage so annimmt, dass also das Lernen über den menschlichen Körper (und dessen Fehlbarkeit und Vergänglichkeit) im Vordergrund steht.
  
Hier werden nun auch Wachsfiguren-Sammlungen, wie etwa die des Josephinums in Wien, mit eingeworfen. Der Vergleich ist vielleicht nicht ganz fair, weil es sich bei Letzterem ja um ein Angebot eines Universitätsinstituts handelt, das nicht kommerzialisiert ist, aber es spielt natürlich als DT-Attraktion eine Rolle. Hier gehe die Faszination von der „ungewöhnlichen Verbindung von wissenschaftlich korrekter Rekonstruktion und anspruchsvoller ästhetischer Gestaltung“ aus (S. 176). Dem ist nicht zu widersprechen. Schade nur, dass nicht noch andere medizinische Ausstellungen Beachtung erfahren, allen voran das bedeutende Mütter Museum in Philadelphia oder das Charité-Museum in Berlin.
  
  
Das Schlusskapitel des Buches ist, wie zu erwarten, ein „Fazit und Ausblick“. Hier wird vor allem erneut die Diversität von DT betont, weshalb kein für alle Bereiche von DT geltendes allgemeines Resümee möglich sei. Zu den Variablen gehören laut dem Autor: Multiple Interessen und Narrative, medialer Einfluss, Multioptionalität (das bezieht sich auf die Bandbreite an Motiven, von Trauer und Gedenken bis hin zu Unterhaltung), Hierarchie des Schreckens (also dass es im DT sowohl „Stars“ als auch „Mauerblümchen“ gibt, S. 181), die Rolle der Mediatoren, Erinnerungslebenszyklus (weshalb z.B. Gedenkstätten veralten und oft mehrfach neu gestaltet werden müssen), oder Grad der Touristifizierung (Besucheraufkommen, mögliche Trivialisierung, Einbeziehung neuer Medien).
  
Ein Schaubild/Diagramm versucht dabei die im Buch vorgestellten Unterkategorien, bzw. Beispiele davon, in einem Schema mit X- und Y-Achse einzuordnen. Auf der einen Seite reicht das Spektrum von „staatliche Einrichtungen“ bis „kommerzielle Angebote“ und auf der anderen von „Trauer/Gedenken über Information/Aufklärung bis Unterhaltung/Voyeurismus“ (S. 181). Dass solche „wissenschaftlich“ anmutenden Diagramme nicht unbedingt die Realität widerspiegeln, kann man daran erkennen, dass etwa Alcatraz ganz an den rechten Rand, also zu Unterhaltung/Voyeurismus, geschoben wird, genau wie auch Tschernobyl (was ich oben bereits schwer kritisiert hatte), also auf gleicher Stufe wie Gruselerlebniswelten und Geisterführungen (die m.E. nicht einmal überhaupt zu DT gehören). Dagegen werden Slumtourismus und Friedhöfe in der Mitte situiert, während staatliche KZ/Genozid-Gedenkstätten ganz „oben“ stehen. Letzteres ist sicher korrekt, aber der Druck, die Einordnungen auf alle Kategorien zu beziehen, scheitert am anderen Ende, wo völlig Unterschiedliches in die gleiche Ecke gestellt wird.
  
Zu guter Letzt kommt dann noch der Ausblick. Zum einen wird dem DT – im Spannungsfeld von „Gedenken vs. Spektakel, Aufklärung vs. Kommerz“ (S. 184) – eine blühende Zukunft prognostiziert. Dies sei nicht nur an den steigenden Besucherzahlen abzulesen, sondern es weise auch hin auf einen steigenden Bedarf an „ungewöhnlichen, authentischen Erfahrungen abseits der standardisierten Angebote des Massenmarktes“ (S. 184). Letzteres sehe ich auch so, frage mich aber, wo solch kommerzialisierten Gruselerlebniswelten wie Dungeons dort hineinpassen sollen. Zudem geht der Autor von einer zunehmenden Diversifizierung aus, auch weil der Mensch selbst für immer mehr Konflikte und Umweltzerstörung sorgt.
   
Wie auf Seiten des Marketings und Managements auf diese Entwicklungen zu reagieren bzw. diese zu bewältigen seien, ist dann die nächste Frage. Der optimistische Ausblick ist der auf verantwortungsvollen Umgang mit „politisch korrekten, sozial- und umweltverträglichen Besucherattraktionen“, die „hohen ethisch-moralischen Ansprüchen gerecht“ werden (S. 186). Dem wird aber auch ein pessimistischer Ausblick zur Seite gestellt, ein „dystopisches Szenario“, in dem es nicht mehr um Gedenken etc. gehe, sondern um Ausgeburten „brutaler und menschenverachtender Unterhaltungsaktivitäten“ (ibid), so wie sie in bestimmten Zukunftsromanen aber offenbar auch in Spekulationen innerhalb der Tourismuswissenschaft in den Raum gestellt werden. So etwa das „Hunting Humans“-Szenario, in dem im Jahr 2200, wo „Überbevölkerung, Naturkatastrophen, Ressourcenknappheit und vor allem eine extreme soziale Ungleichheit herrschen“ (soweit klingt es eigentlich noch wie heute), die wohlhabende Elite zum Vergnügen auf Menschenjagd in Armenvierteln geht, wobei wie im Computerspiel Drohnen und andere Fernwaffen zum Einsatz kommen. Dass so ein Szenario nicht so abwegig sei, wie zu vermuten, zeige sich am Fall eines russischen Reiseveranstalters, bei dem ein Kreuzfahrtschiff gezielt Piratenangriffe vor der somalischen Küste provoziert, sodass die Gäste diese in die Falle getappten Piraten dann mit Waffengewalt zurückschlagen können. Soll das heißen, auch sowas soll zu DT gehören?!? Es hinterlässt jedenfalls ein übles Gefühl. Die versöhnende Schlussaussage, dieses düstere Szenario diene der Mahnung, dass so eine grausame und unmenschliche Zukunft durch unser Handeln zu verhindern sei, hilft dann nicht mehr viel.
   
Soweit zum Inhalt, an den sich noch ein Abbildungs- und Tabellennachweis, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Index anschließen.
  
  
Handwerklich-technisch ist das Buch solide gemacht, die Abbildungsqualität durchweg gut (abgesehen von einem Foto auf S. 39, das mit einem dicken Sensorstaubfleck daher kommt, der an sich digital leicht hätte beseitigt werden können). Sprachlich-stilistisch trifft der Autor zumeist einen sehr guten Mittelwert zwischen akademischer Ausdrucksweise und Verständlichkeit, so wird es selten zu überhöht und verklausuliert und nie zu trivial und simpel. Der Mittelwert ist absolut perfekt für den Zweck des Buches, als Einführung in die Materie zu dienen.
   
An Fehlern ist mir nur wenig aufgefallen – ab und zu finden sich doppelte Wörter (S. 27/28, 81), mal fehlt eine Endung oder ist falsch (S. 32, 128), aber Derartiges hält sich in erfreulichen Grenzen. Schon etwas schlimmer ist die Wortverwechslung in dem Abschnitt zur Einführung von Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen als „Reaktion auf die wachsende Bedrohung durch den internationalen Tourismus“ (S. 77 unten), wo es natürlich „Terrorismus“ hätte heißen müssen. Auch bei der Beschreibung der Besucherreaktionen u.a. als „Sympathie mit den unschuldigen Opfern“ ist sicher ein Übersetzungsfehler: das englisch-deutsche Wortpaar „sympathy/sympathetic vs. Sympathie/sympathisch ist leider ein Fall von ‚false friends/falschen Freuden‘, wo die Ähnlichkeit der Wortform auch semantische Identität suggeriert, die aber nicht gegeben ist. Stattdessen heißt die deutsche Entsprechung ‚Mitleid‘ (siehe auch die ebenfalls gern verwechselten engl. ‚sensible‘ vs. dt. ‚sensibel‘ statt richtig ‚vernünftig‘). 
  
   
Allgemeines Fazit:
  
Zwar habe ich oben im Detail (und z.T. auch grundsätzlicher) manche Kritikpunkte aufgeworfen, das ändert jedoch nichts an dem guten Gesamteindruck. Das Buch schließt eine bedeutende Lücke und tut dies weitgehend hervorragend, und in erfrischend lesbarer Form, die man von den meisten akademischen Schriften zu diesem Thema so nicht gewohnt ist. Dafür schon einmal ein dickes Lob. Auch dem englischsprachigen Markt würde dieses Buch sehr gut zu Gesicht stehen. Der Verlag sollte über eine Übersetzung ins Englische nachdenken.
  
Auch die grafische Seite ist gut gelungen. Nebst vielen Fotos, die in aller Regel auch gut ausgewählt sind, gibt es noch Tabellen und Grafiken sowie diverse Themen-Text-Blöcke zu speziellen Unterthemen, die farblich vom Haupttext abgesetzt sind. So ergibt sich auch ein sehr aufgelockerter grafischer Eindruck.
  
Besonders erfreulich am Inhalt finde ich, wie der Autor fundiert und in Bezug auf solide Quellen/Studien so manches an den viel zu weit verbreiteten Fehlvorstellungen von Dark Tourism (DT) ausräumt, also insbesondere dem immer wiederkehrend Vorwurf, DT sei moralisch verwerflich und nichts als morbider Voyeurismus. Das Derartiges zu fast 100% unzutreffend ist, wird mehrfach und auch in gebotener Schärfe klargestellt. Dass der Autor dennoch „Voyeurismus“ in seinen Katalog von Grundmotiven aufnimmt, wirkt dabei inkonsequent. Im Übrigen hätte ich mir eine stärkere Auseinandersetzung gezielt mit der überwiegend negativen Darstellung von DT in den Medien gewünscht. Da hätte die nur angedeutete Kritik durchaus auch deutlich heftiger ausfallen können.
  
Offenbar geht es aber auch für den Autor nicht ganz ohne immer wieder mal nach Kontroversem zu fischen, leider aber mitunter auch dort, wo es nicht wirklich fair ist. So sind etwa die Einstufungen von Alcatraz und Tschernobyl als bloße Unterhaltung und medien-verzerrte „hyperreale“ Orte zumindest einseitig und unzulässig verdreht. Man bekommt den Eindruck, der Autor hat in diesen Fällen einen viel zu engen Blick auf an sich bedeutend komplexere Dinge. Auch die 9/11-Gedenkstätte in New York wird übermäßiger Kritik unterzogen, die ebenfalls auf einem verengten Blick beruht auf nur die dramatischen Exponate und Inszenierungen außerhalb der Hauptausstellung. Dass letztere von unbestreitbar hoher Qualität ist, fällt dabei völlig unter den Tisch.
   
Auf der anderen Seite werden Aspekte in großer Ausführlichkeit behandelt, deren Zugehörigkeit zum Thema DT mindestens umstritten ist, wie Slumtourismus, Re-enactments von Schlachten sowie Geisterbahnen/-Jagden und kommerzielle Gruselerlebniswelten (die allesamt auf dieser Website gewollt nicht vorkommen – was hier begründet wird). Demgegenüber fehlen ganze Kern-Kategorien von DT,  vor allem alles was mit Kaltem Krieg und Eisernem Vorhang zu tun hätte (obwohl gerade Deutschland in letzterer Kategorie jede Menge zu bieten hat). Das ist schade, aber man kann halt nicht alles haben.
  
Alles in allem kann ich das Buch dennoch wärmstens empfehlen, auch wenn manche Abschnitte mit Vorbehalten zu lesen sind. Aber es gibt bisher auf dem Markt nichts Vergleichbares, somit ist es schon kraft Logik das beste Werk in seiner Kategorie. Aber es ist auch wirklich gut.
  
Ein Reisebuch ist es freilich nicht; d.h. es wendet sich weniger an den Dark Tourist als vielmehr vor allem solche Leser, die einen einführenden Überblick über den Stand der DT-Forschung erlangen möchten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es in vielen Kursen und Projekt-Arbeiten an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen als erste Lektüre zum Thema vorgeschlagen werden dürfte. Ich würde mir auch wünschen, dass es zur absoluten Pflichtlektüre für Journalisten würde, bevor die sich daran machen, Artikel über DT zu schreiben. Doch mir ist klar, dass das wohl leider illusorisch bleiben wird. Dafür ist das Buch mit seinen ca. 200 Seiten sicher zu umfangreich für den hektischen Medienbetrieb.
   
Kurz gesagt: Alle, die ernsthaft und seriös und in deutscher Sprache eine Einführung in das Thema und dessen Erforschung haben möchten, kommen an diesem Werk (zumindest derzeit) nicht vorbei.
  
 
  
  
  
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