Draft manuscript for a presentation I gave in June 2014 at the University of Vienna:

 

'Dark Tourism' - Vortrag von Dr. Peter Hohenhaus, 28 Juni 2014, Universität Wien.

 

Vorbemerkung: Ich werde auch auf Deutsch zumeist den englischen Begriff 'dark tourism' verwenden, denn er hat im Deutschen (noch) keine Entsprechung!

Man könnte zwar direkt übersetzen, also von “dunklem Tourismus” oder “Dunkeltourismus” sprechen. Aber diese Ausdrücke sind nun einmal nicht etabliert, so wie es der englische Ausdruck ist.

 

Die alternative neoklassische Bezeichnung Thanatourismus. gefällt mir nicht, schon weil sie so intransparent ist. Oder wer könnte schon unmittelbar erschließen, was das heißen soll? Erklärung: Thana- ist die altgriechische Wurzel für 'Tod'. D.h. 'Thanatourismus' wäre danach mit “Todes-Tourismus” zu paraphrasieren. Das ist sicher dunkel, mir aber zu unklar und irreführend. Denn wie wir noch sehen werden, geht es bei 'dark tourism' keineswegs immer nur um Tod!

 

Damit zum Thema: Was ist denn nun 'dark tourism'? Der Begriff wurde geprägt von zwei britischen Professoren um als ÜBERBEGRIFF zu fungieren für teils ganz verschiedene Nischen im Tourismus. Eine davon war: Besuche in Gedenkstätten wie Auschwitz oder anderer Orte des Holocaust. Aber auch etwa solcher Einrichtungen wie das Sixth Floor Museum in Dallas, der Ort, von dem aus das Attentat auf John F Kennedy verübt worden war. Heute ist in jenem Stockwerk, von dem aus der Attentäter Lee Harvey Oswald die Schüsse auf JFK abfeuerte, das entsprechend benannte Museum untergebracht.

 

Ebenfalls zu 'dark tourism' zählten sie “Schlachtfeldtoruismus”, 'battlefield tourism', also vor allem Reisen zu früheren Schlachtfelder des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Neuzeitlichere Konfliktzonen wie etwa Zypern waren aber auch mit gemeint. Dort gibt es ja bis heute eine UN-geschützte Grenze die das Land teilt wie einst West- und Ostdeutschland die Berliner Mauer und der innerdeutsche Eiserne Vorhang.

 

Der metaphorische und zugegebenermaßen vage Ausdruck “dark” sollte all dies unter einem Begriff zusammenfassen. Es ist also vor allem eine funktionale terminologische Entscheidung gewesen. Als “flag of convenience” wie es einer dieser Professoren, Tony Seaton, einmal ausgeführt hat.

 

Der Begriff also entstammt dem Akademischen, und zwar dem Großbritanniens, ist aber heute international in Gebrauch. Das Vereinigte Königreich ist immer noch das Epizentrum der akademischen Beschäftigung mit 'dark tourism' – dort gibt es an der Universität von Central Lancaster in Preston seit ein paar Jahren sogar ein eigenes Forschungsinstitut dazu.

 

Als Phänomen selber aber ist 'dark tourism' keineswegs neu! Womöglich ist es älter als alles andere, was wir heute gemeinhin unter Tourismus fassen.

 

Pilgerreisen sind wohl die älteste Form von rein freiwilligem Reisen, also Reisen, das nicht entweder erzwungen ist (z.B. Flucht) oder aus beruflichen-wirtschaftlichen Gründen erfolgt (z.B. Handelsreisen). Ein weiterer britischer Professor der Tourismusforschung mit dem zum Thema passenden Namen John Lennon (nicht verwandt mit dem Beatle) hat darauf hingewiesen, dass es sich bei Pilgerreisen insofern um 'dark tourism' handelte, als die Pilgereise-Ziele in der Regel Stätten des Todes sind. Im mittelalterlichen England etwa die Kathedrale von Canterbury, wo der heilige Thomas Becket im Jahre 1170 ermordet worden war – oder auch natürlich Jerusalem als der Ort des Martyriums und Todes von Jesus Christus.

 

Moderne Pilgerreisen gibt es auch: etwa wenn Menschen die Stelle in New York besuchen, an der Ex-Beatle John Lennon 1980 ermordet wurde. Oder die Stelle in Paris, in der Prinzessin Diana 1997 zu Tode kam.

 

Abgesehen von Pilgerreisen war eine frühe Form des Tourismus die so genannte “Grand Tour” ab dem 17./18. Jahrhundert, wo junge Aristokraten Kulturreisen vorzugsweise nach Italien unternahmen. Auch da war schließlich ein Element des “Dunklen” dabei ... nämlich in Pompeii, wo die Gipsabdrücke von Menschen ausgestellt wurden, die damals durch den Vulkanausbruch des Vesuv zu Tode kamen. Auch die Katakomben von Paris sind schon seit dem 18. Jahrhundert eine Touristen-Attraktion.

 

Zum Massenphänomen wurde Tourismus jedoch bekanntlich erst im 20. Jahrhundert, anfangs vor allem als organisierten Erholungsreisen für die arbeitenden Massen. So entstanden Strandbäder wie Blackpool oder die Ostseebäder in Deutschland. Das war natürlich nicht 'dark tourism' ... obwohl: selbst daran gab es dunkle Aspekte, etwa in Nazi-Deutschland in den 30er Jahren, als das Volkserholungsprogramm der Nazis, “Kraft durch Freude”, auch dazu dienen sollte, das Volk ideologisch gleichzuschalten und nebenbei fitter für den Krieg zu machen!

 

Massentourismus als Urlaub im Ausland kam erst ab den späten 50er Jahren auf, wiederum zunächst als Strand- und Bade-Tourismus. Daneben haben sich aber auch schon früh andere Formen von Tourismus entwickelt, und das bis heute zunehmend. Kultur- und Bildungsreisen waren dabei schon immer eine wichtige Komponente, ebenso wie die Nischen Abenteuerreisen, Naturreisen, oder das, was man heute als “Aktivurlaub” bezeichnet.

 

Seit knapp 20 Jahren kursiert nun der Begriff 'dark tourism' als Bezeichnung für eine eine weitere Form von Nischentourismus. Allerdings hat der Begriff weder in der Tourismus-Industrie selbst, noch im Wortschatz der allgemeinen Alltagskultur Eingang gefunden ... Aber dann bekamen vor ein paar Jahren die Medien Wind davon.

 

Und wie das dann bei den Medien oft so ist, gefragt ist nicht Sachlichkeit sondern Sensations-heischendes. So wird dem 'dark tourism' in den Medien oft reflexartig etwas moralisch Verwerfliches angedichtet.

 

Bei Tourismus wird ja meist an hedonistische Freizeitgestaltung gedacht. Dazu scheint der Begriff “dark” in Kontrast zu stehen. Dann fallen noch Beispiele wie Auschwitz und Tschernobyl und es wird drauflos spekuliert – gerade von solchen Journalisten, die sich zu moralischen Werturteilen berufen fühlen. Die folgen dann gern der Kurzschlussreaktion, dass Leute, die solche Orts des Schreckens bereisen, abnorm seien, und wohl irgendwie krank im Kopf. Und oft folgt dann noch das Missverständnis, dass es dabei nur um den schönen Grusel geht und die Leute bloß “gaffen” wollen. Im Englischen kommt da immer der Ausdruck 'Rubber-necking'.

 

Dieser Vorwurf aber, dass 'dark tourism' dasselbe sei wie voyeuristisches Gaffen, oder gar sich aus “Schadenfreude” am Leid anderer Menschen zu ergötzen, ist ein Pauschalurteil und eine gänzlich unbegründete Unterstellung. Dabei wird nie auch nur der Versuch gemacht, das irgendwie zu untermauern.

 

Unternimmt man aber den Versuch zu erkunden, wo denn tatsächlich die Motivationen der Besucher solcher Stätten liegen in allem Ernst und ganz nüchtern – so wie es die akademische 'dark-tourism'-Forschung ja sehr bemüht tut – dann stellt man schnell fest, das da gar nichts ist mit Voyeurismus und Schadenfreude. Ganz im Gegenteil. Es wird vielmehr auf den Bildungsaspekt hingewiesen. Und auch, gerade bei den ganz dunklen Stätten wie Auschwitz, auf etwas Kathartisches, so dass es geradezu Pflicht sein, einen solchen Ort historischer Tragik einmal mit den eigenen Augen gesehen zu haben, eben weil sich diese Orts-Erfahrung nicht etwa durch Lesen von Büchern ersetzen lässt. Die Authentizität des Ortes ist in der Tat ein ganz wichtiger Faktor im 'dark tourism'.

 

Woher aber kommt nun diese “Moralpanik” in den Medien beim Stichwort 'dark tourism'? Allein, weil es nicht Mehrheits-Tourismus ist? Den Eindruck bekommt man durchaus. Auch die großen Unternehmen im Tourismus, also die, die vor allem normierte Pauschalreisen verkaufen wollen, stehen dem 'dark tourism' feindlich gegenüber – eben weil das in aller Regel selbst organisierter Individualtourismus ist. Vororganisierte Gruppenreisen kommen im 'dark tourism' in aller Regel nicht vor.

 

Mir hat aber bisher noch niemand schlüssig erklären können, warum das moralisch bedenklich sein soll, bzw. im Umkehrschluss: inwiefern es moralisch besser sein soll, z.B. irgendwo in ferne Länder wie Costa Rica oder Kuba oder so zu jetten, nur um dort in abgeschotteten Resorts am Strand zu liegen und in der Sonne zu rösten, sich aber sonst in keiner Weise auf das Land an sich einzulassen.

 

Aber solche Überlegungen kommen in den Medien-Aufregern über 'dark tourism' natürlich nicht vor. Manchmal wird er darüber hinaus auch noch als politisch unerwünscht dargestellt.

 

Zum Beispiel im Zusammenhang mit Nordirland und dem Konflikt, der dort jahrzehntelang herrschte (und zum Teil immer noch nicht ganz überwunden ist). Heute sind in Derry und vor allem Belfast Angebote, die sich mit dieser Konfliktgeschichte befassen, also in den Bereich 'dark tourism' fallen, ein wichtiger Teil des touristischen Portfolios dieser Orte. Weniger von offizieller Seite, eher seitens privater Anbieter – z.B. die berühmten Black Taxi Tours. Diese führen entlang der Trennlinien zwischen protestantischen und katholischen Stadtteilen, wo zum Teil hohe Mauern und Drahtverschläge die Konfliktparteien voneinander fernhalten sollten. Dazu kommen die vielen politischen Wandmalereien, für die Nordirland ja berühmt ist. Zudem sind ehemalige Gefängnisse für IRA-Kämpfer heute teils in Gedenkstätten umfunktioniert worden.

 

Dass es das gibt, und dass es Touristen zu so etwas hinzieht, wurde jüngst in einem Artikel im britischen Guardian von einem Autor schwer kritisiert und bejammert. Angeblich würde das den Aussöhnungsprozess behindern und das Heilen der alten Wunden unmöglich machen. Warum, so fragt der Autor, tun Touristen das, warum fahren sie nicht statt dessen zum Giant Causeway? (Das ist ein Weltnaturerbe und das Standard-Aushängeschild des Mainstream-Tourismus in Irland). Also ich empfinde die Frage schon als Bevormundung! Jedenfalls mit dem Zusatz “statt dessen”. Darf man nicht bitte schön selber entscheiden, wofür man sich interessiert? Womöglich eben auch für beides! Also sowohl Giant Causeway als auch Belfast und Derry. Es ist ja nicht etwa so, dass 'dark tourism' andere Formen von Tourismus ausschließen oder auch nur behindern würde.

 

Interessant war es dann, die Kommentare der Leser in der Online-Ausgabe des Guardian zu verfolgen. Da fand der Autor nämlich so gut wie keine Zustimmung. Die überwältigende Mehrheit der Leser argumentierte, dass es doch wohl keineswegs besser sei, die jüngere Geschichte einfach unter den Teppich zu kehren. Vielmehr werden solche Touren als wichtig gesehen, um die Vergangenheitsbewältigung zu fördern, nicht zu behindern. Gerade Engländer berichteten vielfach, wie ihnen diese Touren erst so richtig die Augen geöffnet hätten, was das Verständnis dieses Teils der jüngeren Geschichte angeht. Kurzum, es wurde der Aufklärungs- und Bildungswert betont, ebenso wie der positive politische Beitrag.

 

Nun soll hier aber auch nicht der Eindruck entstehen, alles am 'dark tourism' wäre vollkommen unproblematisch. Natürlich stellen sich bei den dunklen Themen, die da im Spiel sind, auch ethische Fragen. Etwa zu dem Aspekt, wie eine Gedenkstätte ihr Thema vermittelt, und insbesondere zur Frage des Verhaltens von Touristen an solchen Orten. Und da gibt es in der Tat Missstände.

 

Beispiel: Im vergangenen Jahr ging es durch die Medien, dass da ein junger Mann “Selfies” gesammelt hatte, die an tragischen Orten aufgenommen wurde. Da gab es in den Medien umgehend den üblichen moralisch indignierten Aufschrei ... aber im Gegenzug auch Verteidigungsversuche. Z.B. hatte ein Teenager ein Selfie vor dem Reaktor in Tschernobyl von sich gemacht und das Bild dann ins Netz gestellt. Der sah sich nun eines wahren “shitstorms” ausgesetzt. Daraufhin versuchte er sich zu rechtfertigen. Nämlich, dass er seinem Überwältigt-Sein von der dunklen Aura des Ortes mit seiner Geste Ausdruck verleihen wollen – dass er aber nichts Respektloses im Sinn gehabt habe. Trotzdem: Dass das aber so verstanden werden würde, hätte er m.E. dann aber doch schon voraussehen können und müssen.

 

Wie dem auch sei – gerade beim Thema Fotografieren ist wohl wirklich besonderes Fingerspitzengefühl angebracht. “Selfies” sind ja an sich gar nichts Neues – Touristen haben schon immer dazu geneigt, von einander oder von sich selber Fotos zu machen, vorzugsweise grinsend posierend und mit irgendeiner Touristenattraktion im Hintergrund. Nur dass die Leute heutzutage dazu ihre Handys und iPads verwenden.

 

Und hier muss ich den Moralbedenkenträgern dann doch einmal zur Seite springen. Auch ich finde es äußerst bedenklich, an einem Ort wie einem ehemaligen Konzentrationslager auf genau dieselbe Weise Fotos von sich selbst zu machen, wie das auch in Disneyland oder vor dem Buckingham-Palast üblich ist. An einer KZ-Gedenkstätte ist das in der Tat respektlos

 

Allerdings ist es nicht eine Mehrheit der Besucher, die solches Verhalten an den Tag legt! Ich habe immer den Eindruck, dass es nur eine Minderheit ist, vorwiegend solche Besucher sind, die unvorbereitet in solche Stätten kommen. Oder dort hingeführt werden. Unter Schülergruppen gibt es erwartungsgemäß viel solches Fehlverhalten.

 

Darf man nun aber vom respektlosen Benehmen solcher einzelnen Besucher auf eine generelle Problematisierung von 'dark tourism' schließen? Sicher nicht. Auch z.B. an religiösen Orten benehmen sich Touristen mal daneben, ohne dass gleich gefordert wird, alle Kirchen, Tempel und so weiter für Besucher zu schließen.

 

Ein anderer problematischer Aspekt beim 'dark tourism' betrifft den Zeitrahmen.

Als Faustregel gilt: je länger ein dunkles Kapitel zurückliegt, desto unproblematischer ist die Aufbereitung als Reiseziel für den 'dark tourism'. Und umgekehrt: Je aktueller die Geschichte, desto problematischer. Wichtig dabei vor allem: ist die Tragik auch noch für die dort Lebenden aktuell? Und: werden Besucher willkommen geheißen oder nicht?

 

Man denke an den Fall des Wracks des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, das 2012 in Italien zur spontanen Touristenattraktion wurde. Auch da fanden es manche Angehörige der Opfer unangebracht, dass Touristen zum Kucken kamen. Ansonsten war die Einstellung dazu ganz gemischt – viele örtliche Gastronomiebetriebe haben sich über den zusätzlichen Zustrom von Touristen durchaus sehr gefreut.

 

Grundsätzlich würde ich da eine Linie ziehen, wo es um das Betrachten von aktuellem Leid noch lebender Menschen geht – wie es etwa in China nach dem Sichuan-Erdbeben 2008 vorkam, wo Busladungen von neugierigen chinesischen Touristen kamen und tatsächlich bei den Rettungsarbeiten gestört haben.

 

Aus ähnlichen Gründen würde ich auch nicht an solchen Favela-Touren in Südamerika teilnehmen oder anderen Formen von Slum-Tourismus, etwa in Indien oder Südafrika.

 

Wenn es dagegen vorbei, also Geschichte ist, dann habe ich weit weniger Bedenken, selbst wenn es allerjüngste Geschichte ist. Dort kann die Aufbereitung für den Tourismus sogar der Vergangenheitsbewältigung förderlich sein. Siehe Nordirland! Oder auch Sarajevo in Bosnien.

 

Aber auch da, wo dies zeitlich unproblematisch sein mag, kommt es immer auf das Wie der touristischen Aufbereitung an. Ein viel zitierter Fall ist das Gefängnis von Karosta an der Küste von Lettland. Dies war zur Sowjetzeit ein Militär-Gefängnis. Und nun, da das sowjetische Militär weg und Lettland unabhängig ist, ist daraus eine einzigartige Touristenattraktion geworden. 'Einzigartig' nicht weil es ein ehemaliges Gefängnis ist – davon gibt es viele auf der Welt, die für Besucher offen sind – sondern hier ist es das zusätzliche Angebot: Wer will, kann sich dort an inszenierten Gruppen-Spielen beteiligen, in denen man dann die Rolle eines Häftlings des KGB annimmt, während örtliche Fremdenführer die Gefängniswärter spielen und die Gäste, bzw. Häftlinge auf Russisch schreiend herumkommandieren. Auch Übernachtungen in Zellen bei Wasser und Brot gehören zum Programm-Angebot.

 

Für derartige Inszenierungen fehlt mir ehrlich gesagt auch eher das Verständnis. Aber solange niemandem wirklich Schaden oder (unfreiwillig) Leid zugefügt wird, sollen sie es machen, wenn sie es cool finden, dann akzeptiere ich es, auch wenn es für mich persönlich nichts ist.

 

Auch Karosta ist aber ein Sonderfall. Ich wage mal die Einschätzung, dass von allen Orten, die als dunkle Reiseziele zu sehen sind, 98% im Grunde völlig unkontrovers sind. Dass in den sensationsheischenden Medien aber so oft nur die problematischen 2% herausgegriffen werden, das finde ich unfair.

 

Was gehört nun alles zu 'dark tourism'? Wir haben ja schon einige einschlägige Beispiele gehabt. Was gibt es noch so? Viel!!! Ich könnte unmöglich alles aufzählen. Auf meiner Website behandele ich weit über 600 einzelne dunkle Reiseziele in derzeit 107 Ländern der Welt. Und es werden stetig mehr.

 

Sinnvoller ist, sich einmal die verschiedenen Kategorien von dunklen Reisezielen anzuschauen. Ich unterscheide da bislang 46 Gruppen. Teilweise überlappen die sich, sodass ein und derselbe Ort gleichzeitig mehreren Kategorien angehören kann. Tschernobyl etwa ist zum einen ein Ort einer nuklearen Katastrophe, eines Industrie-Unfalls. Vor allem aber ist es die benachbarte Geisterstadt von Pripyat, aus der die Arbeiter von Tschernobyl mit ihren Familien evakuiert wurden, die einen wichtigen Teil des Erlebnisses eines Tschernobyl-Besuches ausmacht.

 

Der andere bekannte Fall, Auschwitz, gehört sowohl in den Bereich Holocaust-Tourismus wie Zweiter-Weltkrieg-Tourismus. Zu letzterem gehört dann auch das weite Feld des Schlachtfeldtourismus, inklusive von Kriegsschauplätzen aus relativ jüngerer Zeit, wie etwa auf dem Balkan.

 

Neben dem Holocaust sind die Stätten der anderen Fälle von Völkermord in der dunkelsten Kategorie von Reisezielen anzusiedeln, besonders in Kambodscha oder Ruanda, sowie die Gedenkstätte zum Völkermord an den Armeniern in Eriwan. Diese gehören freilich zu den sensibelsten Stätten, die man auf der Welt besuchen kann.

 

Zurück im nuklearen Bereich: dazu gehören auch Ort, die mit Atom-Waffen zu tun haben. Allen voran natürlich Hiroshima und Nagasaki; aber auch die Atombomben-Testgelände in den USA und der ehemaligen UdSSR aus der Zeit des Kalten Krieges kommen als dunkle Reiseziele in Frage. Ja tatsächlich! In den USA z.B. kann man an zwei Tagen im Jahr den Ground Zero des Trinity-Tests besuchen, also der allerersten Atombombenexplosion der Weltgeschichte.

 

Neben menschengemachten Katastrophen sind auch bestimmte Orte von Naturkatastrophen dunkle Touristenattraktionen. Pompeii wurde schon genannt. Als ein “modernes Pompeii” gilt die Stadt Plymouth auf der Karibikinsel Montserrat. Die wurde von ihrem Vulkan weitgehend mit Asche bedeckt. Und bei geringer Vulkanaktivität kann man das zu drei Vierteln verschüttete Plymouth besuchen – das ist so, als wenn man direkt in die Kulissen eines Mad-Max-Films spazieren würde.

 

Gefängnisse haben wir auch schon erwähnt – neben Karosta in Lettland gibt es aber noch ganz andere, zum Teil weltberühmt-berüchtigte ehemalige Gefängnisse, die heute Touristenattraktionen sind. Man denke nur an Alcatraz oder Robben Island.

 

Übrigens: man beachte, dass es bei vielen dieser Orte wie Gefängnissen oder Vulkangebieten wie auf Montserrat, nicht unbedingt um eine Verbindung zum Thema Tod geht, wie oft generell dem 'dark tourism' zugeschrieben wird. Das ist aber nur ein Teilbereich.

 

Andererseits gibt es natürlich viele dunkle Orte, die sehr wohl mit Tod zu tun haben. Am direktesten, wenn tatsächlich sterbliche Überreste von echten Toten öffentlich ausgestellt sind, wie in den Mausoleen kommunistischer Führer (Lenin, Mao, etc.), wobei diese ja doch sehr respektvoll präsentiert werden. Das kann auch für Gebeine gelten – man denke z.B. an die berühmten Katakomben von Paris oder das fantastische Beinhaus von Sedlec in Tschechien, wo die Schädel und Knochen von hunderten von Toten zu aufwändigen Kunstwerken gestaltet sind.

 

Ebenso sind Friedhöfe mitunter sehr ästhetisch gestaltete, ja romantische Orte. Man denke an so schmucke viktorianische Friedhöfe wie Highgate in London, oder Pere Lachaise in Paris, die beide geradezu Pilgerstätten sind, auf jeden Fall sehr beliebt bei Touristen.

 

Eine dagegen eher schwarz-humorige, augenzwinkernd morbide Herangehensweise kann man hier in Wien bestaunen (wo sonst, möchte man sagen – “Der Tod muss a Wiener san” sagt das Sprichwort ja). So passt es, dass es hier das Wiener Bestattungsmuseum gibt! Man kann es allerdings nur mit vorheriger Anmeldung besichtigen.

 

Jederzeit dagegen kann man auf dem Zentralfriedhof typische Wiener Begräbniskultur bestaunen. Ganz besonders auch in der prunkvollen Kaisergruft im ersten Bezirk. Und schließlich bietet auch die Universität Wien gleich zwei dunkle Attraktionen: zum einen den Narrenturm mit seiner medizinisch-anatomischen Ausstellung sowie das Josephinum mit seiner Wachsmoulagen-Sammlung. Beide beim Alten AKH in Alsergrund. So, nun sind wir also gar direkt an der Uni in Wien gelandet. Und damit schließt sich dann gewissermaßen der Kreis.

 

Ich hoffe ich habe einen Eindruck geben können von der faszinierenden Bandbreite dessen, das man als 'dark tourism' bezeichnet. Gleichzeitig hoffe ich, dass ich ein paar Vorurteile habe ausräumen können, die leider immer wieder mal in den Medien kolportiert werden.

 

 

Kurzum 'dark tourism' ist nicht eine irgendwie unethische Abart von Tourismus, sondern in aller erster Linie vielmehr eine spezielle Art des Bildungsreisens mit Schwerpunkt auf jüngere Geschichte – und diese ist nun einmal voll von dunklen Kapiteln. Dass man sich für diese interessiert, ist nicht nur legitim, sondern auch alles andere als moralisch bedenklich. Nur auf die Art der Kommodifizierung (also der “Verpackung” seitens der Anbieter) sowie auf die Art des touristischen Verhaltens kommt es an. Respektvoll dargeboten und durchgeführt ist 'dark tourism' meines Erachtens nur zu begrüßen.